Das soziale Leben

Das soziale Leben

9. August 2019 2 Von JG

Und seine Schwierigkeiten

Mein soziales Leben… ein Ding für sich. Es scheint auch gar nicht so, auf den ersten Blick, für Außenstehende. Aber gestern in einer meiner Therapiestunden ist es mir wirklich bewusst geworden.

Wer als Kind jahrelanges Mobbing hinter sich hat kann glaube ich kein normales Sozialverhalten an den Tag legen. Nicht im Sinne von asozialem Verhalten, Auffälligkeiten, Austicken sondern dem genauen Gegenteil.

Ich denke, da durch, dass ich als Kind in der Klassengemeinschaft auf keinen grünen Zweig kam und immer nur Abstoßung erfahren habe, fällt es mir heute um so schwerer im sozialen Umfeld, sprich in neuen Gruppen, bei Fremden oder so, „anzukommen“. Wisst ihr, was ich damit sagen will? Ich versuche es mal zu erklären:

In einer Gruppe hat doch jeder irgendwie auf längere Sicht hin eine bestimmte Rolle. Die Coole, die Lustige, die Anstrengende, die etwas Andere, die, die viel redet, die Langweilige… und auch wenn ich hier die weibliche Form nehme, gehe ich davon aus, dass das auch bei dem anderen Geschlecht so ist, nur vielleicht mit anderen Rollen 😉 Außerdem ist es so, dass bei Manchen die Chemie besser stimmt wie bei den anderen. Ist es nicht immer so?

Ich für meinen Teil tue mich sehr schwer damit, in Gruppen zu überleben. Ich bin irgendwie immer die, die außen vor bleibt. Die nicht ganz so gut ankommt. Die nicht ständig gefragt wird, ob sie spontan Lust hat auf ein Treffen. Versteht mich nicht falsch, ich bin da auch nicht eifersüchtig oder neidisch, es ist nur eine Tatsache die mir immer wieder widerfährt. Es liegt auch nicht daran, dass ich kein liebenswerter Mensch bin (ok, ich gebe zu an meinem Selbstwertgefühl muss ich noch schwer arbeiten) oder ich völlig langweilig bin, nein. Ich bin einfach zu vorsichtig, zu skeptisch, zu ruhig und in keiner Weise extrovertiert.

Jahrelang musste ich genauestens abwägen wer was wann wie und wo von mir wollte, was mir passiert, wo ich aufpassen muss, wo ich sicher bin. Ich musste ständig meine Antennen aufstellen und schauen, was in meinem Umfeld passiert. Und das prägt einen. Es lässt auch nicht gerade so super viel Vertrauen in Fremde wachsen. Misstrauen, das konnte ich immer gut. Menschenkenntnis ist daraus entstanden, das ist das Positive.

Es stellte – oder stellt mich teilweise immer noch – vor große Herausforderungen gewisse Handlungen in großen, fremden Gruppen durchzuführen. Das hört sich sehr komisch an, ist es auch, ich weiß. Wenn ich heute darüber nachdenke ist das schon ein wenig krank… Aber es war zum Beispiel lange Zeiten unmöglich für mich, während des Unterrichts die Nase zu putzen. Oder später während Vorträgen raus auf Toilette zu gehen. Heute fällt es mir teilweise noch schwer bei einem Restaurantbesuch durch das halbe Lokal zu laufen um die Toilette aufzusuchen. Heute ist es mir noch ganz aktuell passiert, dass ich in einem Reha Vortrag saß und es nicht fertig gebracht habe während des Vortrags raus zu gehen, mich durch die Leute zu quetschen und den Raum zu verlassen… Einfach weil ich denke die anderen sehen mich, reden über mich, urteilen über mich. Ich weiß auch, dass das total krank ist, aber es sind irgendwie Überbleibsel…

Mir wird auch oft gesagt, wenn man mich das erste Mal sieht, wirke ich sehr arrogant und eingebildet, unnahbar. Ich bin alles, nur nicht das! Aber es ist der erste Eindruck. Der Eindruck einer Frau, die sich als Kind ständig abgrenzen und behaupten musste…

Jetzt bin ich aber kein Kind mehr und ich muss lernen, die Muster zu erkennen und sie zu ändern. Heute habe ich die Oberhand. Ich brauche mich im besten Fall nicht mehr schützen sondern kann selektieren wer oder was mir gut tut und wer oder was nicht. Früher als Kind konnte ich das nicht, ich war schutzlos und ausgeliefert. Daran muss ich allerdings noch viel arbeiten, das ist eine enorm große Aufgabe für mich.

Ihr seht, meine Geschichte ist sehr umfassend und vielschichtig. Viele Eigenschaften beruhen auf Erlebnissen aus der Kindheit, Erfahrungen, die man sich echt hätte schenken können. Das Einzige was ich rückblickend als positiv daraus ziehe ist meine gute Menschenkenntnis. Alles andere wünsche ich keinem Anderen. Es ist sehr unschön so gehemmt zu sein, immer als ruhig und unscheinbar wahrgenommen zu werden. Ich werde nie der Mittelpunkt einer Gruppe oder eines sozialen Verbandes werden, aber etwas mehr Integrität wäre wohl nicht schlecht…