Mein großer Bruder
Und warum Reden so wichtig ist…
Dieses Thema ist eines der größten, schwierigsten und schlimmsten meines Lebens. Es hat mein komplettes Leben verändert und beeinflusst es noch bis heute.
Eigentlich weiß ich gar nicht so recht, wo ich bei dem Thema anfangen soll. Immer, wenn das Thema zur Sprache kommt sind alle Gesprächspartner geschockt und ich erhalte ‚Oh wie schlimm‘ oder ‚Das tut mir aber leid‘ zu hören. Ja, es ist schlimm, ja, es tut mir auch leid. Leider trauen sich die Menschen nicht weiter zu fragen, wahrscheinlich aus Anstand, Respekt aber auch, weil sie meinen, es tut mir zu weh. Oder aber auch, weil es meinem Gegenüber zu unangenehm ist. Ich kann nur mutmaßen…
Wenn aber jemand fragen würde, könnte man ihm damit aufzeigen, wozu Depressionen oder Ängste einen bringen können. Und ist das nicht eins der wichtigsten Dingen in dem Themenbereich – Aufklärung? Darüber reden? Bewusstsein für diese schlimme Erkrankung schaffen? Es ist für mich nicht schlimm darüber zu reden. Ich empfinde es sogar als wichtig darüber zu reden.
Unsere Tochter ist jetzt fast 12 und eine unserer Grundregeln ist REDEN! Egal was ist, wenn man Angst hat oder Sorgen: Reden! Egal ob wir sauer aufeinander sind, sie Mist gebaut hat, ob morgen die Sonne auf die Erde knallt – Reden! Wann immer dich etwas bedrückt! Egal wo, in der Schule, beim Einkaufen, mit Freunden!
Hätte mein Bruder damals geredet, würde er heute wahrscheinlich noch leben. Mein Bruder hat sich mit 18 Jahren das Leben genommen. Ich war gerade 11 Jahre alt geworden. Am 7. Januar 1996. Ich habe meinen großen Bruder verloren, weil er nicht geredet hat. Im Nachhinein hat man einige Mutmaßungen erfahren, was los war, was seine Beweggründe hätten sein können. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Aber wissen tun wir es nicht.
Würde er mir heute noch einmal gegenüber stehen, würde ich ihn für seine Feigheit, seine Dummheit ohrfeigen. Versteht mich nicht falsch, ich liebe meinen Bruder. Aber ich bin so sauer auf ihn. Er hat das für sich entschieden. Bei den Hinterbliebenen bleibt nur ein großes Warum? Es war sein einziger Ausweg, es muss die Hölle für ihn gewesen sein. Er hätte nur reden müssen… Wir wären alle für ihn da gewesen. Aber wir wussten von nichts…
Ja, ich habe meinen großen Bruder verloren… Meine Mutter ihren Sohn. Meine Oma ihren Enkel, meine Tante ihr Patenkind. Ein Stück unseres Lebens wurde uns genommen. Heute können wir sagen: Durch die Depressionen. Durch die Dämonen, die einen irre machen, die nur schwarz sehen. Keinen Ausweg erkennen. Ich kämpfe selber gegen diese schwarzen Gestalten, die miesen Tage, ohne Freude, ohne zu sehen was schön ist.
Aber ich versuche darüber zu reden…